Auf dem Dach des Apennin

Bei schönstem Wetter und strahlend blauen Himmel verlassen wir CASTELLUCCIO und fahren ein letztes Mal durch das kalte und dicke Nebelmeer des PIANO GRANDE. Die Schäden des schweren Erdbebens am 24. August werden jetzt immer sichtbarer. Große Steinbrocken liegen bei der Abfahrt ins Tal neben der Straße. In VEZZANO steht vermutlich kein Haus mehr. Die Straße unterhalb des schwer getroffenen ACCUMOLI ist wegen des abgerutschten Hanges nur einspurig befahrbar. Alle paar hundert Meter hat sich die Fahrbahn gesenkt, die Brücken sind verschoben. Wie in allen zerstören Orten, so steht auch vor AMATRICE die Polizei vor der Ortschaft und lässt nur die Hilfskräfte durch. Überall ist die Feuerwehr an der Arbeit, viele der blauen Zelte stehen auf den Freiflächen. Eine überaus bedrückende Situation.

Wegen der gesperrten Straßen machen wir einen großen Umweg durch die einsame Gegend nach MONTEREALE. Hier, nur ein paar Kilometer weiter, sind keine Schäden an den Häusern zu sehen. In einer kleinen Ortschaft füllen wir am Brunnen unser Wasser auf. Ein Mann kommt auf uns zu und begrüßt uns auf Deutsch, im Hof sitzen Frauen und schälen Feuerbohnen. Die Chefin des kleinen Cafés wird für zwei Gläser Weißwein eilends herbei geholt. Hier ist die Welt glücklicher Weise noch so, wie sie vor dem Erdbeben war.

Jetzt geht es nur noch ein Stück weiter, zum LAGO DI CAMPOTOSTO, der uns von der letztjährigen Reise noch gut in Erinnerung ist. Da waren wir in CESACASTINA bei den imposanten 100 Wasserfällen auf der anderen Seite der Berge. Schon damals lockten die eindrucksvollen Berge über den LAGO CAMPOTOSTO. Also mache ich mich heute auf den Weg zu diesen gelbbraunen Grasbuckeln. Der Weg führt durch einen noch recht kühlen Buchenwald, der höher gelegen schon sein herbstliches Kleid angezogen hat. Die Wolken haben sich verzogen und der Himmel strahlt im hellen leuchtenden Blau. Schlecht für den Fotografen, gut für den Wanderer. Über weite und runde Bergkuppen geht´s dann in direkter Linie mühsam durch die hohen Grasbüschel hinauf zum 2153 m hohen MONTE DI MEZZO. Im Norden erhebt sich die riesige Hochfläche von CASTELLUCCIO, im Süden die hohen Berge des GRAN SASSO mit dem eindrucksvollen Gipfel des CORNO GRANDE. Das zerstörte AMATRICE liegt langgestreckt tief unten auf einem kleinen Bergrücken. Am Gipfel weht ein kalter Westwind. Da liegt es sich im Windschatten im tiefen Gras angenehm warm und weich. Gerade als ich aufbreche, kommen vier Italiener herauf. Herzlich ist die Begrüßung, die Unterhaltung trotz mangelnder Italienischkenntnissen recht angeregt. Zurück geht es weglos, vorbei an einer kleinen Pferdeschar, immer auf dem runden Grat, mit Blick auf den herzförmigen LAGO DI CAMPOTOSTO.

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In der Nacht hat es zeitweise heftig geregnet, am Morgen ist der Himmel mit dicken grauen Regenwolken bedeckt. Es ist Sonntag und unsere Vorräte müssen ergänzt werden. So fahren wir über die kurvenreiche Straße hinunter nach L’AQUILA, über und unter uns Wolken. Im Zentrum der alten Stadt sind überall noch die Schäden des großen Erdbebens von 2009 zu sehen. Fensteröffnungen sind zugemauert, Häuser mit großen Rissen stehen neben neuen. Viele Kräne überragen den alten Ortskern, doch manche Straßen sind noch provisorisch abgesperrt. Es scheint sich zumindest etwas zu bewegen, nach immerhin nun sieben Jahren. Wie bedrückend muss das für die Menschen sein. Ohne uns weiter aufzuhalten fahren wir zügig hinauf nach SANTO STEFANO DI SESSANIO und besuchen unseren Platz vom letzten Jahr. Anfangs fegt der Wind über die sanften hellbraunen Hügel und bringt noch gelegentlich Regen mit sich. Doch nach und nach werden die Wolken weniger und die blauen Flecken am Himmel größer. Auf dem Hügel gegenüber thronen das CASTELLO DO ROCCA CALASCIO und die Kirche MADONNA DELLA PIETA vor immer noch gewaltigen Wolkenbergen.

Dann fahren wir im GRAND SASSO hinauf in die wunderbare und landschaftlich besondere Hochfläche des CAMPO IMPERATORE, das seinen Namen vom Stauferkaiser Friedrich II. haben soll und nicht von den Tagen der Gefangenschaft des Duce Mussolini. (Dieser ist übrigens in einer Nacht- und Nebelaktion von einer deutschen Einheit befreit und an den Gardasee gebracht worden, um Hitler als „rechtmäßiges“ italienisches Staatsoberhaupt zu dienen.) Nebelschwaden ziehen noch umher, doch der Wetterbericht verheißt sonniges Wanderwetter. So fahren wir hinauf zur Seilbahnstation, damit der CORNO GRANDE, mit 2912 m der höchste Berg des gesamten Apennin, endliche bezwungen werden kann. Die erste Station ist das RIFUGIO DUCA DEGLI ABRUZZI, das außerhalb der Saison verlassen auf einem langgestreckten Grashang liegt. Der anfängliche blaue Himmel überzieht sich schnell mit hoch aufquellenden Wolken. Heute ist das Wetter sowohl für den Wanderer als auch den Fotografen ein Genuss. Bequem führt der Weg über die SELLA DI MONTE AQUILA weiter zum Fuß des CORNO GRANDE. Von hier geht es erst über Geröll, später durch Fels, steil hinauf zum Gipfel. Immer wieder verändern die Wolken die Stimmung, manchmal bin ich im Nebel fast eingehüllt, doch meist kann ich die Wärme der Sonne genießen. Der Blick geht immer weiter, der blaue LAGO DI COMPOTOSTO erscheint und der MONTE DI MEZZO. Dann ist auch der Gipfel schon erreicht. Die Adria leuchtet im hellen Blau zwischen den Wolken. Auf dem Rückweg besteige ich im Vorbeigehen noch den MONTE AQUILA, jetzt meist von Wolken verhüllt. Doch ab und zu ist der Blick frei auf den immer noch von der Sonne beschienen CORNO GRANDE. Das war wohl einer meiner  eindrucksvollsten Wanderungen.

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Wer es noch nicht weiß, ich liebe Wolken und natürlich die Bilder davon. Hier noch eine wirklich kleine Auswahl vom heutigen Tag.

2 Gedanken zu “Auf dem Dach des Apennin

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